Gefühlte Wirklichkeit

Wenn es am heutigen Tag 30 Grad warm war, war es dann heiss oder warm? Ist es zu heiss oder ist es einfach gerade richtig? Leben in der Schweiz zu viele Ausländer? Zu viele Muslime? Zu viele Buddhisten? Zu viele Juden? (Die Fragen liessen sich beliebig ergänzen und weiterführen…)

Das Problem bei solchen Fragen ist, dass diese nicht eindeutig beantwortet werden können. Jeder empfindet gewisse Situationen anders. Wer zum Beispiel mit einem Ausländer Probleme hatte – welcher Art auch immer – wird wahrscheinlich zukünftig aufgrund der negativen Erfahrungen skeptisch gegenüber Ausländern reagieren. Egal woher sie stammen und egal welchen Hintergrund sie haben.

Es ist ein allgemeiner Trend in der Schweiz zu beobachten, dass man sich vor Fremdem fürchtet. Diese Haltung führt dazu, dass bereits Kindern eine gewisse Art von Misstrauen eingepflanzt wird.

Ein Beispiel aus meiner Kindheit (vor etwas mehr als 20 Jahren…): In unserem Dorf gastierten regelmässig Fahrende mit ihren Wohnwägen auf einer öffentlichen Wiese. Meistens für einige Tage. Dass sie während dieser Zeit das Dorfgespräch waren, versteht sich von selber. Eine meine Mitschülerinnen meinte damals, sie würde nun einen Selbstverteidigungskurs besuchen. Auf meine Frage, weshalb sie das tun würde, antwortete sie: Weil jetzt die "Zigeuner" (Originalausdruck) da wären und sie Angst hätte, dass man sie entführen würde. Dies war insofern erstaunlich, als das es in meinem Wohnort keinen mir bekannten Vorfall mit Fahrenden gab.

Screenshot einer Diskussion auf Facebook

Der obenstehende Screenshot stammt aus einer von mir geführten Diskussion auf Facebook. Ich habe die irrelevanten Daten unkenntlich gemacht. Es ging in der Diskussion um "Sans Papiers", also Menschen, die keine Papiere besitzen.

Aus der Sicht eines SVP-Mitgliedes mag diese Argumentation richtig erscheinen – aus einer anderen Sicht nicht. So gibt es zum Beispiel keinen Beleg für diese "99 % die nicht mit den Behörden zusammenarbeiten". Es handelt sich dabei eher um einen gefühlten Wert. Auch die restlichen Aussagen wie das "Sans Papiers kriminell sind" wird im weitere Verlauf der Diskussion nicht mit Zahlen untermauert. Dass es durchaus auch kriminelle "Sans Papiers" gibt bezweifelt wohl niemand.

In solchen Diskussionen stösst man, wenn man nach Argumenten fragt, oftmals an Grenzen. Denn, wie will man eine gefühlte Wirklichkeit mit Zahlen untermauern? Jemand der in einem Quartier wohnt in welchem es "nur" ausländische Wohnbevölkerung gibt, wird man kaum überzeugen können, dass Ausländer nicht die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.

Gefühlte Wirklichkeiten helfen in Diskussionen allerdings wenig weiter. Entscheidend sind belegbare Fakten. Denn nur so können alle wirklich vom Gleichen diskutieren.

Die SVP und Norwegen

Heute war ein Flugblatt der SVP im Briefkasten. "Masseneinwanderung stoppen!" – Volksinitiative zum 1. August 2011. Auf einer Doppelseite erklärt die schweizerische Volkspartei, warum wir eine angebliche Masseneinwanderung haben, die es zu stoppen gilt.

Vor einer Woche, am 22. Juli 2011, ermordete ein politisch motivierter, offenbar psychisch Kranker, über 70 Menschen in Norwegen. Als Beweggründe gab er unter anderem eine schleichende Islamisierung Europas an.

Die SVP, insbesondere deren islamkritische Exponenten wie z. B. Oskar Freysinger bemühten sich sofort, sich von diesem vermeintlichen "Einzeltäter" zu distanzieren, ihn in die psychisch-kranke Ecke zu drängen.

Dank Philippe Wampfler (Twitter, Blog) bin ich auf folgenden Artikel auf sueddeutsche.de gestossen. Unter anderem folgende Passagen finde ich ziemlich bemerkenswert:

"Der 22. Juli 2011 hat gezeigt, dass die greifbarste Frucht der islamkritischen Aktivitäten bislang nirgendwo die Zurückdrängung des Islams ist, sondern nur die Spaltung eben derjenigen Gesellschaft, für die die Islamkritik zu sprechen vorgibt, die sie verteidigen und stärken will. Die anderen, lernen wir jetzt, sind wir selbst. Die Anti-Islam-Bewegung hat nicht den Hass gegen den Islam, sondern den gegen das heutige Europa hochgepäppelt, gegen jeden europäischen Bürger und erst recht jeden Politiker, der den Makel hat, sich nicht von ihr irre machen zu lassen.

Niemand, nicht einmal die entschiedensten Kritiker der Anti-Islam-Bewegung, haben das ganze Ausmaß dieses autoaggressiven Potentials erahnen können. Vielmehr haben wir uns von der Rhetorik der Anti-Islam-Bewegung, ja vom bloßen Namen "Islamkritik" in die Irre leiten lassen. In Wahrheit ist der Islam hier nur die (stark überstrapazierte) Bande, über deren Umweg die Kugeln der Kritik die eigene Gesellschaft anstoßen sollen. Die Islamkritiker kritisieren den Islam und meinen die eigene Gesellschaft, die nicht so ist, wie sie sie sich wünschen."

(Quelle: sueddeutsche.de)

Stefan Weidner, der Autor des Artikels, vertritt eine interessante These: Den Islamkritiker geht es weniger um den Islam sondern mehr um diejenigen Menschen, die für andere (Moral-)Vorstellungen stehen.

Interessant ist das deshalb, weil die meisten Islamkritiker sich viel weniger von den Fundamentalisten unterscheiden, als sie wahrhaben wollen.

So gibt es ziemlich offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen den Muslimbrüdern in Ägypten und der SVP. Beide spielen mit der Angst der Menschen vor Veränderungen. Vor der Angst, die Identität zu verlieren. Einen diesbezüglichen Blog-Artikel findet sich auch im "Polit-Blog" des Tagesanzeigers. Die Kommentare der Pro-SVP-Schreiber lassen übrigens sehr tief blicken.

Die SVP ist – wie die anderen rechts-konservativen Parteien – nicht schuld am Massaker in Norwegen. Dafür muss sich der geständige Täter alleine verantworten. Moralisch kann und sollte man sie aber zur Verantwortung ziehen. Die Welt verändert sich und das wird sie auch weiterhin tun – Menschen mit Angst und Misstrauen gegeneinander aufzuhetzen wird dabei nicht viel ändern.

Warum Schweizer die SVP nicht wählen (sollten)

„Schweizer wählen SVP“ – und alle anderen? Was wählen Menschen,die keine rassistische und von Ängsten geprägte Politik wählen wollen? Die nicht auf ein reines Schwarz/Weiss-Denken aus sind?

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat als Slogan für die kommenden Wahlen im Herbst folgenden sehr prägnanten und sehr endgültigen Satz: „Schweizer wählen SVP“.

In einem Weblog habe ich folgenden Slogan gefunden: „SVP Politik ist ehrenhaft – Schweizer wählen SVP !“ (Quelle: http://www.judith-uebersax.ch/)

SVP Politik ist vermutlich vieles, aber definitiv nicht ehrenhaft. Vor allem aber polarisiert sie wie keine zweite Partei.


(Legende: „SVP“-Plakat, daneben der Spruch: „Alles andere…? Sind EU-Lutscher“)

Das obenstehende Foto habe ich bei einem meiner letzten Spaziergänge in unserem Dorf gemacht. Mal von der illegalen Beschmutzung der Wand abgesehen – ich meine damit den Spruch, nicht das Plakat – ist das eigentlich sehr repräsentativ: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Die SVP möchte gerne ehrenhaft sein. Ihre Politik und insbesondere ihr Umgang mit Andersdenken ist für Aussenstehende und die Betroffenen manchmal äusserst befremdlich. Dabei bedient sie ihre Wählerschicht mit den passenden Opfer/Täter-Bilder: Auf der einen Seite das „Opfer“ – der Schweizer. Auf der anderen Seite der böse, nicht integrierte, kopftuchtragende, arbeitsplatzwegnehmende, sozialschmarotzende, scheininvalide Ausländer.

Denn die sind in immer verschiedenen Variationen meistens Schuld an den Problemen in unserem Land. Ausländer und natürlich die Linken, die mit dem bereits von den Nazis geprägten Begriff „Gutmenschen“ abfällig tituliert werden.

Leider können die anderen (Bundesrats-)Parteien nur reagieren statt agieren. Die SVP beherrscht das Spiel mit den Medien und dem Volk wie keine zweite. Leider. Und sie hat eine grosse Geldbörse im Hintergrund, der Marke Blocher.

Gedanken zu Oslo 2011

You may say that I'm a dreamer
But I'm not the only one
I hope someday you'll join us
And the world will be as one

— John Lennon (Imagine)

Am vergangenen Freitag, dem 22. Juli 2011, ereigneten sich in Norwegen – in Oslo und auf der Insel Utøya zwei grausame Anschläge. Verübt durch – so der bisherige Stand – einen Einzelnen. Mindestens 92 Menschen verloren bei diesen grauenhaften und menschenverachtenden Taten ihr Leben. Der Täter konnte zum Glück gefasst werden.

Entgegen den ersten vorschnellen Reaktionen (thematisiert u. a. im «Bildblog» oder im Nachhinein auch von Stefan Niggermeier auf «FAZ.NET» gehört der Täter nicht zu einem islamistischen Kreis. Im Gegenteil. Gemäss ersten Informationen handelt es sich dabei um einen christlich-konservativen Rechtsextremisten und Islamophoben.

Das allerdings die meisten Menschen Terroranschläge mit Moslems gleichsetzen, beweist der folgende Beitrag, den Philippe Wampfler in seinem Blog veröffentlicht hat. Und es ist doch tatsächlich so: Sobald irgendwo ein Anschlag medial ausgeschlachtet werden kann, nimmt der Otto-Normal-Bürger an, es wären Islamisten am Werk. Dass aber zahlreiche Anschläge, z. B. in Deutschland von Rechtsextremen gegen Linke und deren Einrichtungen verübt werden, wird geflissentlich übersehen. Rechtsextreme Gewalt scheint zwar verpönt – aber offenbar akzeptiert zu werden. Ein sehr bedenklicher Schritt.